In dem Bericht über das letzte Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern wird von einem eigentümlichen Vorgang erzählt, der auf das christliche Empfinden immer großen Eindruck gemacht hat. Es heißt da:
Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. Es fand ein Mahl statt, und der Teufel hatte Judas, dem Sohn des Simon Iskariot, schon ins Herz gegeben, ihn zu verraten und auszuliefern.
Jesus, der wusste, dass ihm der Vater alles in die Hand gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte, stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. Als er zu Simon Petrus kam, sagte dieser zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete ihm: Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen. Petrus entgegnete ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus erwiderte ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir. Da sagte Simon Petrus zu ihm: Herr, dann nicht nur meine Füße, sondern auch die Hände und das Haupt. Jesus sagte zu ihm: Wer vom Bad kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füße zu waschen. Auch ihr seid rein, aber nicht alle. Er wusste nämlich, wer ihn verraten würde; darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein.
Als er ihnen die Füße gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.
Was bedeutet dieses Begebnis? … Im zweiten Kapitel des Philipperbriefes spricht Paulus über das, was in der Ewigkeit hinter der Menschwerdung steht. Da sagt er vom Sohne Gottes: “ Da er in Sein und Gestalt Gottes war, sah er es nicht für Anmaßung an, sich Gott gleich zu achten“ – denn er war es – sondern seine Gesinnung war anders: „er vernichtigte sich selbst und nahm die Gestalt eines Knechtes an und ward in menschlicher Daseinsform erfunden.“ (Phil.2, 6-7) Hier wird vom ewigen Sohn Gottes gesprochen, der Gott war, dem Vater gleich, und dieser göttlichen Ebenbürtigkeit voll bewußt. in Ihm, in einer jeder Psychologie und Metaphysik unzugänglichen Tiefe, ist der Wille erwacht, sich selbst zu „vernichtigen“; sich dieses Seins in Glorie, dieser herrschenden Allfülle um unseres Willen zu entäußern. So ist er hinabgestiegen. Nicht nur auf der Erde, sondern auf eine Tiefe zu, die wir nicht ermessen können; eine furchtbare Tiefe und Leere, von der wir erst dann ein Empfinden bekommen, wenn einmal wirklich, innerlich an uns herantritt, was Sünde ist. Es ist die Vernichtigung des Opfers, das sühnt, erlöst und neu beginnt. …
Es gibt verschiedenerlei Nichts. Vor allem das einfache, klare, das gemeint ist, wenn man sagt, Gott habe die Welt aus Nichts erschaffen. Das bedeutet, dass Gott Alles war in Allem, und außer Gott eben nichts. Das blanke Nicht-Vorhandensein von irgendetwas. Dann kam der Mensch in die Prüfung und sündigte. Die Sünde bedeutete mehr, als dass er nur bloß „schuldig“ war. Der Mensch existiert nicht aus einfachem Vorhandensein wie der Stein oder das Tier., sondern auf das Gute hin. Im freien Gehorsam gegen Gottes Willen soll er sich verwirklichen. Als der Mensch gesündigt hatte, war er nicht das gleiche Wesen wie vorher, nur „schuldig“, sondern bis auf den Grund des Seins in Frage gestellt. Er hätte auf Gott hin leben sollen; statt dessen fiel er von Gott ab. Nun existierte er im Wegsturz von Gott auf das Nichts hin. Aber nicht auf das blanke, gute Nichts des Noch-nicht-da-seins, sondern auf die Zerstörung durch das Böse. Diese Zerstörung wird nie ganz erreicht, denn der Mensch, der sich nicht selbst geschaffen, kann sich auch nicht durch die Sünde aufheben; aber die Vernichtung wird zum Ziel, auf das die Seinsbewegung immerfort zustürzt. Diesen unendlich fernen, furchtbaren Punkt nun … musste Gottes Erlösung einholen. Natürlich nicht, indem er selbst sündigte, sondern indem er, wie Paulus sagt, sich selbst „entleerte“, „vernichtigte“. Die Hingabe seiner selbst in die Leere, in die Vernichtigung; nicht dem Sein, sondern der Gesinnung nach; auf der Linie, die das Wort „wer seine Seele festhält, wird sie verlieren; wer sie aber hergibt um meinetwillen, wird sie gewinnen“ (Mt. 10, 39) meint, ist das Opfer. Dass Gott in das Opfer eingetreten ist; nicht bloß der Mensch Jesus, sondern der menschgewordene Sohn Gottes; und zwar in das Opfer, wie es nach der Sünde möglich und notwendig wurde – das drückt sich in dem Begebnis aus, von dem wir sprechen: dass Jesus, der sich Meister und Herr weiß, den Dienst des Knechtes tut. Hier wird jenes Nichts deutlich, in dem sich die Vernichtungsbewegung des Wegsturzes von Gott eingeholt und aufgehoben wird. Es ist jenes Nichts aus welchem die zweite Schöpfung hervorgeht: die Schöpfung des Gott zugewendeten, in der Gnade aufs neue heilig-wirklichen Menschen. …
Wenn die Jünger ratlos sind, so haben sie recht. Hier wird wahrlich alles umgestürzt. Vor dieser Tat sind die menschlichen „Umwertungen der Werte“ nur Kindereien. Wie ernst es aber Jesus meint, zeigt sein Wort an Petrus: „Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht … Wenn ich dich nicht wasche, hast du keine Gemeinschaft zu mir“. In dieses Geheimnis der göttlichen Selbsthingabe muss Petrus eintreten, wenn er Anteil an Christus haben will. Es steht im Herzpunkt des Christentums. Darum sagt auch der Herr: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr tuet, wie ich an euch getan habe.“ Sie sollen nicht nur Bescheidenheit lernen und zum Dienst brüderlicher Liebe bereit sein, sondern in den Mitvollzug des Geheimnisses eintreten.
Jeder christlich Lebende kommt an den Punkt, wo ihn diese Forderung trifft, und er bereit sein muss, in die Vernichtigung mitzugehen: in das, was vor der Welt töricht, für das Gefühl unerträglich, dem Verstand sinnlos ist. Was es auch sei: Leid, Unehre, dass geliebte Menschen weggehen oder das Werk zerbricht. Dann entscheidet sich sein christliches Dasein: ob er in jene Tiefe mitgeht und so an Christus Anteil gewinnt. Und was ist das Anderes, wovor wir am Christentum zurückschrecken? Darum versuchen wir ja doch aus dem Christentum „Ethik“ zu machen, oder „Weltanschauung“, oder was sonst. Christsein ist aber der Mitvollzug des Daseins Christi. Daraus kommt allein der Friede. Der Herr sagt einmal: „Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch.“ (Joh. 14, 27) Friede kommt daraus, das der Sinn zu Ende gelebt wird. Die halben Dinge machen Unfrieden. Jene Bewegung auf das böse Nichts hin, die aus der Sünde kam, muss zu Ende gebracht werden. In irgendeiner Weise müssen wir jene Tiefe der Vernichtigung berühren, die Christus göttlich durchlebt und ausgeschöpft hat, wie es sich in den letzten Worten ausdrückt, die sagen, dass „es vollbracht ist.“ (Joh. 19, 30) Jenes Zu-Ende-Geführt-sein des Werkes, jene restlose Verwirklichung des Vaterwillens – daraus kommt der unendliche Friede, der in Christus ist. Auch uns kommt er nur daher, aus dem Mitvollzug des Geheimnisses.
Aus: Romano Guardini: Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi. Werkbund-Verlag, 1938