Die Schuldverschiebung auf Kosten der Jüdinnen * Juden spiegelte nicht nur wider, wie sich jes(ch)uanisch-messianisch und jüdische Gläubige unterschiedlicher Richtungen auseinanderlebten, sondern bereitete den Vorwurf vor, Jeschua / Jesus getötet zu haben, und begleitete ihn: zunächst bei den Synoptikern gegenüber jüdischen Behörden und später im Johannesevangelium an „die Juden“ gerichtet. Letzteres dokumentiert einen fortgeschrittenen Prozess der Herausbildung eines jüdisch-christlichen Gegensatzes und der gegenseitigen Entfremdung. Ein weiteres Indiz dafür ist der etwa zeitgenössische Brief von Ignatius von Antiochien an die Magnesier.
Ende des 2. Jh. klagte der Bischof Melito von Sardes († um 190) die Juden in seiner Predigt „Über das Osterfest“ an: „Gott ist getötet worden, der König Israels beseitigt von Israels Hand“. Melito verschärft den G’ttesmordvorwurf, indem er in der Passionserzählung den Gebrauch der „spitzen Nägel“, „Geißeln“ und des „Schwertes“ dem Johannesevangelium folgend von den Römern auf „die“ Juden überträgt. Damit macht er sie zu denen, die Jeschua / Jesus nicht nur zum Tod verurteilten und auslieferten, sondern gefoltert und selbst hingerichtet hätten. Zugleich verbreitet er die Behauptung von der angeblichen Kollektivschuld unter den christlichen Hörerinnen * Hörern.
„Bis in unsere Gegenwart wurden der sog. Blutruf und die Gottesmordthese immer wieder als Beschuldigung in Predigt und Theologie, in Frömmigkeit und Unterweisung sowie Brauchtum und Bildtradition wiederholt. Sie haben unermesslichen Schaden verursacht. Zahlreiche Judenverfolgungen wurden mit ihnen gerechtfertigt“ (Henrix).
Literatur (in Auswahl):
Henrix, Hans Hermann, Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen, Kevelaer 2004; Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder, Reinbek 1991.
Hr. N. C. Schmeiser OP