Du, o Maria, bist zum Buch geworden, in dem heute unsere Lebensregel aufgeschrieben worden ist. Heute ist in dir die Weisheit des ewigen Vaters eingetragen worden, heute offenbart sich in dir die Würde, Stärke und Freiheit des Menschen.
Wenn ich deinen großen Ratschluss erwäge, ewige Dreieinigkeit, sehe ich, dass du in deinem Licht die Würde und den Adel des Menschengeschlechtes erblickt hast. Dieselbe Liebe, die dich zwang, den Menschen aus dir hervorzuziehen, drängte dich darum auch, ihn zu erlösen, als er verloren war. Dass du den Menschen bereits liebtest, noch ehe er war, hast du trefflich dargetan, als du ihn allein der Liebe wegen aus dir hervorziehen wolltest. Noch größere Liebe hast du ihm erwiesen, als du dich selbst ihm schenktest, indem du am heutigen Tag dich in das armselige Gewand seines Menschseins eingeschlossen hast. Was konntest du ihm Größeres geben als dich selbst? Deshalb konntest du mit Recht zu ihm sprechen: „Was hätte ich dir tun sollen oder können, und habe es nicht getan?“
Ich sehe dies: Deine Weisheit schaute im großen und ewigen Ratschluss, was zumHeil des Menschen geschehen sollte, deine Huld willigte ein und deine Macht hat es heute verwirklicht.
Welche Weise hast du, ewige Dreieinigkeit, gefunden, um deine Wahrheit zu vollenden, am Menschen Erbarmen zu üben und deiner Gerechtigkeit genugzutun? Welches Heilmittel hast du uns gegeben? Hier die heilkräftige Arznei: Du hast beschlossen, uns das Wort, deinen eingeborenen Sohn, zu geben. Er sollte den Stoff unseres Fleisches, das dich beleidigt hatte, annehmen, um durch sein Leiden in unserem Menschsein deiner Gerechtigkeit genugzutun, nicht kraft des Menschseins, sondern kraft der mit ihr vereinten Gottheit. So wurde deine Wahrheit verwirklicht und erfüllt und beide, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, gestillt.
O Maria, ich sehe, wie dieses Wort, das dir gegeben wurde, um in dir zu sein, dennoch nicht vom Vater getrennt ist. Es verhält sich wie mit dem Wort der Sprache, das der Mensch in seinem Innern trägt: Auch wenn es geäußert und anderen mitgeteilt wird, trennt es sich nicht vom Herzen und bleibt mit ihm verbunden. Darin zeigt sich die Würde des Menschen, für den Gott so viele und große Dinge getan hat.
An dir, Maria, tritt heute auch die Stärke und Freiheit des Menschen hervor. Denn nachdem der große und erhabene Ratschluss feststand, wurde der Engel zu dir gesandt, um dir das Geheimnis dieses Ratschlusses zu verkünden und deinen Willen zu erkunden. Ehe du nicht eingewilligt hattest, stieg der Sohn Gottes nicht in deinen Schoß herab. Er wartete an der Pforte deines Willens, dass du ihm öffnetest, da er zu dir kommen wollte. Er wäre dort nie eingetreten, hättest du ihm nicht geöffnet mit den Worten: „Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du es gesagt hast“. An deine Pforte, Maria, pochte die ewige Gottheit. Hättest du aber die Tür deines Willens nicht aufgetan, wäre Gott in dir nicht Mensch geworden. Schäme dich, meine Seele, wenn du siehst, wie Gott heute in Maria mit dir Blutsverwandtschaft eingegangen ist! Heute ist dir kundgetan worden, dass du, wenngleich ohne dich erschaffen, nicht ohne dich gerettet wirst.
O Maria, meine süße Liebe, in dir findet sich das Wort geschrieben, von dem wir die Lehre des Lebens haben. Du bist die Tafel, die uns jene Lehre darbietet.