Warum stellten in erster Linie die synoptischen Evangelien den jüdischen Prozess gegen Jeschua/Jesus im Widerspruch zu jüdischen Rechtsvorschriften dar? Weshalb verschoben alle Evangelien die Schuld in Richtung der Juden anstatt – historisch richtig – die römischen Besatzer in Person des Präfekten Pontius Pilatus eindeutig als allein verantwortlich zu benennen?
Die Evangelien entstanden zwischen 70 und 110 u.Ztr., als sich nicht nur innerhalb der sich herausbildenden christlichen Gruppierungen, sondern auch zwischen ihnen und den Juden*Jüdinnen wegen des jes(ch)uanischen Messiasbekenntnisses, des Glaubens an die G’ttessohnschaft Jesu und der Einhaltung der mosaischen Gebote Gegensätze herausgebildet hatten. „Aus einem innerjüdischen konflikthaften Ringen war so zunehmend ein Kampfverhältnis zwischen Synagoge und Kirche geworden. Während der Zeit des sich verschärfenden Kampfes entstanden die Schriften des Neuen Testaments. Sie spiegeln an vielen Stellen die Heftigkeit der Auseinandersetzung wider. Manchmal verlagerten sie eine Konfliktsituation zur Zeit der Schriftwerdung in die Zeit Jesu zurück … Manche Äußerungen lassen sich aus der Enttäuschung der Anhänger Jesu erklären, dass so wenige Juden den Glauben an Jesus als Christus annehmen. Für die Kampfsituation zwischen Kirche und Synagoge wirkte sich besonders weitreichend und letztlich tragisch die Tendenz der neutestamentlichen Schriften aus, die Juden für den Tod Jesu verantwortlich zu machen; die stärkere Zuschreibung der Verantwortung für den Tod Jesu auf das jüdische Volk geht in den späteren Evangelien mit der Minderung der Verantwortung des römischen Statthalters Pontius Pilatus an der Verurteilung Jesu einher“ (Henrix). Die dramatische Konstruktion der Evangelien unterstreicht die vermeintliche jüdische Schuld.
Verwendete Literatur (in Auswahl): Henrix, Hans Hermann, Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen, Kevelaer 2004.
Hr. Norbert C. Schmeiser