Wer war schuld am Tod Jesu? V c

Die Evangelien spiegeln wider, wie das vielfältige Judentum und der sich in Pluralität entwickelnde jes(ch)uanisch-messianische Glaube sich langsam auseinanderlebten. Es entstand ein religiöser Wettbewerb zwischen ihnen und innerhalb der verschiedenen Glaubensrichtungen des entstehenden Christentums während der Herrschaft der römischen Militärdiktatur. Nach der vernichtenden Niederschlagung des Aufstandes in der Provinz Judäa um 70 u.Ztr. wurden die Evangelien verfasst. Danach galten JüdinnenJuden reichsweit als ewige Rebellen und wurden verstärkt von den römischen Militärbehörden beobachtet. Infolgedessen erschwerten aus der Sicht der Evangelien sowohl das Judesein Jeschuas / Jesu als auch seine Hinrichtung als politischer Widerständler („König der Juden“) die Mission im Imperium Romanum. Das betraf vor allem römische Staatsbürger, die keine JüdinneJuden waren. Indem alle Evangelien vermeiden, den römischen Präfekten das Todesurteil aussprechen zu lassen, suchen sie ihre Leser*innen und die römischen Militärbehörden davon zu überzeugen, dass das Bekenntnis zu Jeschua / Jesus nicht gegen den Kaiser gerichtet war. Damit verbanden sie die Hoffnung, die Folgen der Verfolgung unter Kaiser Nero zu mildern, das Verhältnis zur römischen Staatsmacht erträglich zu gestalten und die weiere Duldung der jes(ch)uanisch-messianischen Gemeinden zu erreichen. Die entlastende Schuldreduktion der Römer auf ein Minimum ging in der Konkurrenz zwischen jüdisch und jes(ch)uanisch-messianisch Gläubigen auf Kosten der jüdischen Seite – die Evangelien bauschten deren Schuld zum eigenen Vorteil auf. In der Folge wurde aus dem historischen Pontius Pilatus, dem Judenfeind und Judenverfolger, ein „zögernder, unsicherer Mann, der von Evangelium zu Evangelium immer sanfter und liebenswürdiger wird“ (Heer; die frühere Äthiopische Staatskirche feiert den Gedenktag des von ihr als Märtyrer heiliggesprochenen St. Pilatus am 25. Juni). Dadurch dienten die Evangelien sich politisch gleichzeitig den Römern an, um deren Gunst zu erwerben.

Verwendete Literatur (in Auswahl): Brenner, Michael, Kleine Jüdische Geschichte, München 2008; Henrix, Hans Hermann, Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen, Kevelaer 2004; Heer, Friedrich, Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum, München u.a. 1967; Martin, Bernd, Schulin, Ernst, Hrsg., Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München (2. Aufl.) 1982; Stemberger, Günter, Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München1979.


Hr. Norbert C. Schmeiser

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