Weshalb inszenierten vor allem die synoptischen Evangelien zeitlich vor dem römischen Zivilprozess unter Leitung des römischen Prokurators Pontius Pilatus eine eigenständige jüdische Gerichtsverhandlung, in der Jeschua (hebr., gr. Jesus) verurteilt wird? Warum schieben alle Evangelien die Schuld in Richtung der Juden anstatt – historisch richtig – die römische Besatzungsmacht vertreten durch den Statthalter eindeutig als allein verantwortlich darzustellen?
Der alleinige, an sich richtige Verweis darauf, dass die Passionserzählungen keine historischen Berichte sind und keine Prozessprotokolle sein wollen, läuft Gefahr, die Verantwortung der Evangelien für die verheerenden Folgen des Gottesmordvorwurfes zu relativieren und zu verharmlosen, der zur Rechtfertigung von Judenverfolgungen schlimmsten Ausmaßes herangezogen wurde. Zudem: wer mit diesem Verweis das Abwälzen der Schuld am Tod Jesu auf Juden bagatellisiert, stellt sich bis heute auf die Seite der Römer, also der Täter, und setzt gleichzeitig andere Textelemente der Leidenserzählungen wie den engagierten und engagierenden Glauben an Jesus als den Maschiach bzw. Sohn G‘ttes herab.
Die Entstehung dieser Erzählungen ist in einen historischen Zusammenhang eingebettet und von den zeitgenössisch sich entfaltenden Konflikten geprägt. Die Schuldzuweisung an Juden für den Tod Jeschuas / Jesu ist mithin in den Entstehungskontext der Evangelien zwischen 70 und 110 u.Ztr. einzuordnen. Dieser ist von folgenden ineinandergreifenden Zusammenhängen geprägt: im Verlauf des ersten Jahrhunderts u.Ztr. bilden sich vielfältige sich als „christlich“ verstehende Glaubensrichtungen aus einem differenzierten Judentum sowie Mischformen während der Militärdiktatur der Römer heraus und entwickeln sich weiter. Zu den verschiedenen Richtungen im Judentum und in den entstehenden christlichen Gemeinden wie zur römischen Herrschaft haben sich die Passionserzählungen positioniert.
Hr. Norbert C. Schmeiser