Um die Frage zu klären, „ob überhaupt eine regelrechte Gerichtsverhandlung des Synedrions stattgefunden hat“ (Söding), sind die Passionserzählungen (vgl. Mk 14,43-16,6, Mt 26,47-28,8, Lk 22,47-24,12 und Joh 18,1-20,18) mit den jüdischen Rechtsvorgaben jener Zeit abzugleichen.
Nach Joh 18,12-13 sei die Verhandlung vor Hannas nicht öffentlich gewesen, obwohl dies untersagt war. Gemäß Mt 26,59 und Mk 14,55 hätten „die Hohenpriester und der ganze Hohe Rat“ anfangs nach Zeugen gegen ihn gesucht und nach Mt 26,66 hätte der Hohe Rat hätte einstimmig für schuldig votiert (so auch Mk 14,64 und Lk 22,71), demgegenüber muss der Angeklagte zunächst verteidigt werden und nicht alle dürfen für „schuldig“ plädieren. Ein einmütiger Schuldspruch zeigte nach jüdischem Recht die Unschuld des Angeklagten, weil bei Einstimmigkeit von 23 Personen, die im Hohen Rat mindestens anwesend sein mussten, eine Verschwörung vermutet wurde. Danach hätten Jeschua / Jesus freilassen müssen.
Ein Schuldspruch verlangt zwei übereinstimmende Zeugen, die sich nach Mk 14, 55-59 (par. Mt 26,59-60) nicht fanden – nach jüdischem Gesetz hätte Jeschua / Jesus dann freigesprochen werden müssen. Laut Mk 14,60 und Mt 26,62 überlässt Kaiphas dem Beschuldigten die Gelegenheit, sich selbst zu belasten, was verboten war, um Taten in Suizidabsicht zu verhindern. Laut Mk 14,63 (par. Mt 26,65) zerreißt Kaiphas dann sein Gewand, obwohl dies nach Leviticus 21,10 untersagt war, er klagt Jeschua / Jesus der Gotteslästerung an, obwohl Richter keine Anklagen erheben durften, und will ihn aufgrund seiner eigenen Aussage verurteilen, was verboten war. Zudem galt nur das buchstäbliche Aussprechen des Gottesnamens als todeswürdige Gotteslästerung (Sanhedrin 7,5), was Jeschua / Jesus laut Schilderung der Evangelien nicht getan hatte. Mk 14, 64 (par Mt 26,66) lässt den Hohen Rat danach – nächtens – per gemeinschaftlich durchgeführter Akklamation das Todesurteil sprechen, die Schuld durfte erst 24 Stunden nach der Verhandlung in einer individuellen Abstimmung mit dem Jüngsten beginnend zugesprochen und das Todesurteil erste 3 Tage danach verkündet werden. Richter musste sich freundlich verhalten und der Verurteilte durfte vor der Hinrichtung weder gewaltsam festgehalten noch ausgepeitscht werden, auf Schläge und Anspucken standen Geldstrafen – Mk 14,65 und Mt 26,67 stellen diese Misshandlungen Jeschuas / Jesu dar (bei Lk vor der Verurteilung 22, 63-65).
Weil die Römer innertheologische Debatten nicht interessierten, kann die Besatzungsmacht keine Veranlassung gesehen haben, „aufgrund einer Klage der jüdischen Priesterschaft wegen Missachtung jüdischer Religionsgesetze gegen Jesus vorzugehen, wie die Passionsgeschichten der Bibel unterstellen“ (Kopp). Deswegen hat die Auslieferung an Pilatus (vgl. Mk 15,1, par Mt 27,2, Lk 23,1-2) allenfalls einen Wert als literarischer Übergang ohne geschichtliche Bedeutung.
Die Fülle an Widersprüchen zu Regelungen des Prozessrechtes zeigt: so wie die Evangelien die Befragungen durch Hohepriester und die Gerichtsverhandlungen vor dem Hohen Rat schildern können diese „nach allem Wissen über die Verfahrensvorschiften … nicht stattgefunden haben“ (https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-rk/gym/bp2016/fb7/2_anti/1_mat/05_m4/). Der Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums, Gerd Lüdemann schlussfolgert: „die Verhandlung vor dem Hohen Rat hat ja nicht stattgefunden“. In jedem Fall ist „die Vorstellung, die jüdischen Behörden … hätten eine …Mitverantwortung für die Verurteilung Jesu ist historisch und rechtlich nicht haltbar“ (Kopp).
Verwendete Literatur: Cohn, Chaim, Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Berlin 2017; Holger Fröhlich im Interview mit Christian Wiese, Von der Schuld am Tode Jesu: Eine Spurensuche, in: https://brefmagazin.ch/artikel/von-der-schuld-am-tode-jesu-eine-spurensuche/; Fruchtenbaum, Arnold G., Das Leben des Messias. Zentrale Ereignisse aus jüdischer Perspektive, Hünfeld (8. Aufl.) 2015, 83-102; Gnilka, Joachim, Das Evangelium nach Markus, Zürich u.a. (3. Aufl.) 1979, S. 284-289, 284-285; Kopp, Eduard, Wer ist schuld am Tod Jesu? in: https://chrismon.de/artikel/872/wieso-die-behauptung-juden-seien-schuld-am-tod-jesu-historisch-nicht-haltbar-ist vom 7.10.2010; https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-rk/gym/bp2016/fb7/2_anti/1_mat/05_m4/; Lüdemann, Gerd, Wer war schuld am Tode Jesu? in: https://www.welt.de/welt_print/article3529990/Wer-war-schuld-am-Tode-Jesu.html vom 09.04.2009); Söding, Thomas, Der Prozeß Jesu, in: Herder Korrespondenz, 41. Jahrgang, Heft 5, Mai 1987, S. 236-240, 238.
Hr. Norbert C. Schmeiser OP