Anders als die historisch fundierte Analyse (Teil I), die die Verantwortung der römischen Besatzungsmacht für den gewaltsamen Tod Jeschuas (hebr.; gr. Jesu) begründet, geben die Passionserzählungen der Evangelien – in unterschiedlichen Graden – Juden die Schuld an der Exekution Jesu.
In den nach Matthäus und Lukas bezeichneten Evangelien unbekannter Autoren stiften Juden Römer dazu an, Jeschua / Jesus zu töten. Im Matthäusevangelium werden die jüdischen Oberen als boshafte Strippenzieher und die Römer als Instrumente ihrer Machenschaften dargestellt. Letztere werden auch entlastet, wenn das Lukasevangelium ausgerechnet den römischen Hauptmann sagen lässt: „Wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter“ (Lk 23,47). Diese Aussage verschiebt die Schuldfrage in Richtung der Juden. Nach dem in der Karfreitagsliturgie regelmäßig verlesenen Johannesevangelium hätten „die Juden“ die Kreuzigung Jeschuas / Jesu eingefordert, obwohl Pilatus den „König der Juden“ hätte freilassen wollen. Der römische Statthalter hätte ihn an „die Juden“ übergeben, die ihn dann sogar selbst gekreuzigt hätten (vgl. Joh 19,18), obwohl deren Hinrichtungsart die Steinigung war. Dieser Vergleich zeigt auch, dass die Evangelien nicht darin übereinstimmen, wer für Urteil und Kreuzigung verantwortlich gemacht wird.Dass es historisch unhaltbar ist, den römischen Statthalter von Schuld zu entlasten bzw. frei zu sprechen und Juden dafür verantwortlich zu machen, wird auch am Bild deutlich, dass die Evangelien von Pontius Pilatus entwerfen. Denn dieses ist nicht mit dem Zeugnis profaner Quellen des 1. Jahrhunderts vereinbar. So zeigen der Philosoph Philo und der Historiker Flavius Josephus diesen römischen Statthalter als einen grausamen Herrscher, der fortwährend Menschen ohne Urteilsspruch hinrichten ließ. Ihnen zufolge schlug er nicht nur den jüdischen Protest gegen den Missbrauch des Tempelschatzes für den Bau einer Wasserleitung mit brutaler Gewalt nieder, sondern ließ auch eine große Menge von Galiläern niedermetzeln, als diese ihre Opfer im Jerusalemer Tempel darbrachten. Unter seiner Herrschaft von 26 bis 36 n.d.Ztr. wurden etwa 6000 jüdische Menschen hingerichtet – das sind im Durchschnitt täglich 1,64 jüdische Personen. Wegen der Ermordung von Samaritanern, die sich zum Berg Garazim aufmachten, wurde Pontius Pilatus als Prokurator abgesetzt und musste sich danach in Rom verantworten. Es ist nicht vorstellbar, dass ein diktatorisch herrschender Militärverwalter sich von den von ihm unterdrückten Juden vorschreiben ließ, wen er seinen römischen Soldaten zur Kreuzigung übergab und wen nicht.
Verwendete Literatur: Dommershausen, Werner, Die Umwelt Jesu, Freiburg 1977, S. 50-51; Kopp, Eduard, Wer ist schuld am Tod Jesu? in: https://chrismon.de/artikel/872/wieso-die-behauptung-juden-seien-schuld-am-tod-jesu-historisch-nicht-haltbar-ist vom 7.10.2010; https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-rk/gym/bp2016/fb7/2_anti/1_mat/05_m4/; Küng, Hans, Das Judentum, München 1991, S. 408-411; Linke, Georg, Wer war schuld am Tode Jesu? Die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes in Gottes Bund, in: https://www.theologie-naturwissenschaften.de/diskussion/blog-georg-linke/einzelansicht/wer-war-schuld-am-tode-jesu vom 10.03.2011; Lüdemann, Gerd, Wer war schuld am Tode Jesu? in: https://www.welt.de/welt_print/article3529990/Wer-war-schuld-am-Tode-Jesu.html vom 09.04.2009); Ritt, Hubert, Wer war schuld am Tode Jesu? Zeitgeschichte, Recht und theologische Deutung, in: Biblische Zeitschrift, Heft 2, 31. Jahrgang 1987, S. 165-175, 168, 172.
Hr. Norbert C. Schmeiser OP