Kreuze ohne das Kreuz

Foto : Die Mutter Christi hält ihren toten Sohn in den Armen. Kreuz und Pietà in der vom Feuer verwüsteten Kathedrale Notre Dame de Paris

Das Kreuz Christi lässt sich in seiner Wirkkraft mit dem eizenkorn vergleichen, das in die Erde gesenkt wurde und seine hundert- und tausendfältige Frucht bringt. Darum ist nicht ein Buch oder ein Manifest das Zeichen des Christentums, sondern eben das Kreuz; man versteht nur zu gut, wenn dieses Zeichen den einen eine Torheit, den anderen ein Ärgernis bedeutet; den Jüngern des Herrn aber gilt es als Zeichen des Heils. Im Kreuz Christi – und allein in ihm liegt – auch der Sinn all der anderen Kreuze, aller menschlichen Leiden beschlossen.

Reinhold Schneider, der wie kaum ein anderer von den Widersprüchen und dem Unheimlichen in der Geschichte getroffen war, berichtet von einer Begebenheit in Flandern im Jahr 1566: „Mit einem Hass, der im tiefsten Grunde rätselhaft bleibt, wandten sich die aufgewühlten Volksmassen gegen die herrlichen alten Kirchen des Landes“. Es geschah in einer Kirche, dass sich die Anführer an einer mächtigen alten Kreuzigungsgruppe vergriffen und das mittlere Kreuz umstürzten, während sie die Kreuze der Schächer stehen ließen. „So entstand dieses Sinnbild, das der Menschengeist vielleicht nicht hätte ersinnen können: die Schächer ohne den Herrn. Eine furchtbare Lücke klaffte zwischen den beiden Kreuzen … die Kreuze standen in einer grundlosen Nacht, im reinen Nichts“. Was für ein Zeichen! Wo immer das Kreuz Christi beseitigt wird, da bleiben die Kreuze der Schächer übrig, da werden die Kreuze der Räuber zum neuen Zeichen – und es gibt keine Hoffnung mehr, weil es keine Verheißung mehr gibt, wie sie Christus am Kreuz ausgesprochen hat: „Amen ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lk 23, 43).

Aus: Georg Moser ( 1975-1988 Bischof von Rottenburg-Stuttgart): Täglich Grund zur Hoffnung, Herder 1993.

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