Die wehrlose Liebe Gottes

Johannes Bours (+1988); aus dem Buch: Nehmt Gottes Melodie in euch auf

Es gibt eine Erfahrung, die manchen Christen schwer zu schaffen machen kann: dass Gott verschwindet. Offenbar geht in unserer wissenschaftlich-technischen Welt eine tiefe Veränderung des religiösen Bewusstseins vor sich. Gott verschwindet im Bewusstsein sehr vieler Menschen. Er verschwindet unter einer Woge von Gottvergessenheit und unter einer Woge von Agnostizismus.

Nun kann man aber den Glauben an Gott, das absolute Geheimnis, nur durchhalten, wenn man etwas von ihm erfährt. Man erfährt aber nur etwas von Gott – aus Gnade – wenn man sich existentiell auf ihn einlässt. Und nun möchte ich es wagen zu sagen: Wir werden am ehesten etwas von Gott erfahren, wenn wir uns auf einen „Zug“ im Wesen Gottes einlassen, der – so meine ich – heute deutlicher als zu anderen Zeiten hervortritt: die Wehrlosigkeit seiner Liebe.

Gott ist so unaufdringlich, so wehrlos in unserer Zeit, dass er verschwindet. Er kommt sozusagen nicht mehr vor. Man bemerkt ihn kaum noch. Die meisten Menschen unserer westlichen Welt leben so, als wäre er nicht da. Ein französischer Theologe hat jüngst gemeint, wir müssten uns mit einem gewissen Nutzlosigkeits-Status Gottes in unserer Zeit abfinden.

Erfahren wir Gott so, wie wir im Psalm 29 beten: „Der Herr zerschmettert die Zedern des Libanon, die Stimme des Herrn wirbelt Eichen empor“? Erfahren wir Gott so, wie wir im Mose-Lied (Ex 15) beten:“ Der Herr ist ein Krieger, Rosse und Wagen warf er ins Meer. Deine Rechte, Herr, zerschmettert den Feind; du strecktest deine Hand aus, da verschlang sie die Erde …“? Diese Worte sind – in einem tieferen Verständnis – nicht ungültig geworden. Sie sind ein ursprünglicher, bildhafter Ausdruck für eine Wirklichkeit in Gott, nämlich dass er der absolute Herr, der Allmächtige ist, Herr des Himmels und der Erde.

Und doch: mir will scheinen, als gebe es so eine Art „Evolution“ in der Gottesoffenbarung. Dieser Gott, der in den ältesten Psalmen noch beschrieben wird mit Bildern der Gottkönige von Ägypten und Babylon, dieser Gott, der Rosse und Wagen ins Meer schleudert, ist auch bei Jesus von Nazareth der Herr des Himmels und der Erde, der allmächtige Gott. Aber – und ich finde dies ist das Bewegendste in de Religionsgeschichte überhaupt – dieser Gott ist bei Jesus Christus der, der seine Allmacht zur wehrlosen Liebe werden lässt. Dieser Gott Jesu Christi zeigt seine Macht darin, dass er als wehrlose Liebe der Rettende wird. Dieser Gott wird anschaubar in dem hilflosen Kind, das in der Krippe liegt. Dieser Gott wird anschaubar in dem Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht auftut. Diese Ohnmacht der wehrlosen Liebe Gottes besiegt alles, besiegt den Tod. Es ist das abgründige Geheimnis Gottes, dass er, der Allmächtige, der absolute Herr, als Liebe retten will – und wahre Liebe ist wehrlos; aber ihre Wehrlosigkeit ist stärker als der Tod. (…)

Der Deus semper major, der je größere Gott, wird in seiner Kenosis, seiner Entäußerung, zum Deus semper minor, zum je Geringeren. Er wird zum Kind. Er wird zu dem Gott, der heute gleichsam verschwindet, der wie unauffindbar wird, mit dem die Menschen machen, was sie wollen, die Theologen und die Atheisten, der Mann auf der Straße und die Medien auf allen Kanälen; zu dem Gott, der ohnmächtig in der Welt ist, der nicht mit seiner Allmacht von außen eingreift. Er wird zur wehrlosen Liebe, und sie ist stärker als alles, stärker als der Tod.

Woher weiß ich das? Ich sehe es am Mysterium des Kindes. Ich sehe es an Jesus Christus, dem Gekreuzigten, dem wehrlos-ohnmächtigen, welcher der Auferstandene ist, der Lebendige. Der Sieger über den Tod!

Man darf diese wehrlose Liebe nicht missverstehen. Sie ist nichts Schwächliches, Weichliches, Kernloses. Was sie in Wahrheit ist, kann man allein an Jesus lernen, der mit großer Entschiedenheit auftritt, kompromisslos. Der das Schwert-Wort gesprochen hat: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!“. Der den Knecht des Hohenpriesters zur Rechenschaft zieht: „Warum schlägst du mich!“ Der aber dann in Freiheit zulässt, dass die Menschen mit ihm machen was sie wollen. Gott ist der Allmächtige, aber seine Allmacht läuft gleichsam wie aus einem Gefäß aus, sich verströmend in der Gestalt der wehrlosen Liebe.

Sieht es auf der Welt und in der Geschichte so aus, als gelange die wehrlose Liebe Gottes an ihr Ziel? Als käme sie durch? Es ist, als würde sie geradezu verschüttet und zum Verschwinden gebracht unter einer Lawine von Vergesslichkeit und Gewalt.

Und doch wartet sie darauf, in der Weise der wehrlosen Liebe, erkannt, aufgenommen zu werden. Sie sucht mit den Augen der Sehnsucht die Landschaft der Menschengeschichte ab, wo sich eine Tür, ein Herz auftut, damit sie eintreten kann, und damit an dieser Stelle die Verwandlung beginnen kann. Was Jesus von sich selber sagt, das sagt die wehrlose Liebe Gottes: „Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester, der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann!“ (Lk 9, 58). Wo ist Raum für die wehrlose Liebe? Ist alles vollgestellt mit Haben, Macht, Angst, Enge?

Die wehrlose Liebe sucht den Ort, sucht das Herz, wo sie ankommen kann. „Ich sagte zu einem Volk, das meinen Namen nicht anrief: Hier bin ich, hier bin ich! Den ganzen Tag streckte ich meine Hände aus … Ich wäre zu finden gewesen für die, die nicht nach mir suchten“ (Jes. 65).

Aber er ruft mit leiser, wehrloser Stimme – „Du bist der Leiseste von allen“ (Rilke) -, so dass nur einer es wahrnehmen kann, der selber still geworden ist, „arm“ geworden ist, ein stilles Herz hat. Gott in unserer Zeit: Dem wird etwas von Gott  aufgehen, der weiß, dass ER die wehrlose Liebe ist.

Bild: Francisco de Zurbarán: Lamm Gottes

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